Streßzustand Krankheit

Die Krankheiten befallen uns nicht wie der Blitz aus heiterem Himmel, sondern entwickeln sich ganz allmählich aus kleinen, täglich wider die Gesundheit begangenen Verstößen, und erst, wenn diese sich angehäuft haben, brechen sie scheinbar plötzlich hervor.

Hippokrates von Kos
griechischer Arzt
(um 460 – um 370 v. Chr.)

Wenn wir zum Arzt “müssen”, also wenn uns Beschwerden deutlich plagen, sind wir – meistens jedenfalls – wirklich krank. Niemand will krank sein. Kranksein bedeutet langes Sitzen in Wartezimmern, mitunter unangenehme oder schmerzhafte, manchmal sogar riskante Untersuchungsmethoden, Warten auf Befunde, Hin-und Hergeschicktwerden zu verschiedenen Fachärzten, vielleicht sogar ein Klinikaufenthalt. Kranksein stört und unterbricht den eigenen Lebensrhythmus, den der Familie und kann den Arbeitsplatz gefährden. Kranksein, vor allem, wenn es sich um chronische Erkrankungen handelt, kann auch den sozialen Status mindern. Solche krankheitsbegleitenden Faktoren sind zusätzlicher Streß, der die ursprüngliche Erkrankung noch verstärkt und den Heilungsprozeß negativ beeinflußt. Es liegt deshalb auf der Hand, sich Gedanken über krankmachende Faktoren zu machen und darüber, wie man solche Faktoren vermeiden oder ausschalten bzw. ihren Einfluß und Folgen auf unsere Gesundheit minimieren kann. Das nennen wir Prävention.

Am Anfang steht immer die Frage: Wie werden wir überhaupt krank? Diese Frage ist deshalb so wichtig, weil von allen zur Zeit bekannten Krankheiten nur ein Drittel ursächlich, also kausal behandelt werden kann. Bei zwei Dritteln versuchen wir, die Symptome zu lindern, wie zum Beispiel bei Rheuma (den fortschreitenden Entzündungsprozeß verlangsamen, Schmerzlinderung erreichen, die Beweglichkeit steigern, u. v. a.). Das gleiche gilt für Morbus Crohn, Colitis ulcerosa oder Diabetes, für viele Krebsarten, chronische Nieren-oder Lebererkrankungen, Multiple Sklerose, Lungenfibrose, die venöse Insuffizienz, Parkinson oder Alzheimer, um nur einige Beispiele zu nennen. Einigkeit besteht heute weitgehend darin, daß fast alle Erkrankungen von Freien Radikalen vielfältiger Ursache ausgelöst, unterhalten oder verschlimmert werden. Von Freien Radikalen hat fast jeder schon etwas gehört. Verbraucher und auch Patienten werden im Fernsehen und in Publikumszeitschriften von sogenannten “Fachleuten” unablässig mit diesem Begriff, der übrigens nichts mit politisch motivierten marodierenden Banden zu tun hat, konfrontiert. Was Freie Radikale sind, wie sie entstehen und wie man ihre zerstörerischen Wirkungen verhindern, bzw. abmildern kann, ist dagegen weniger bekannt. Ratschläge hierzu verlieren sich in Allgemeinplätzen wie “viel frische Luft”, “ausgewogene Ernährung” oder “gesunder Schlaf”. Als “Gesundheitsexperte” aufzutreten, erfordert nämlich keine Qualifikation und ist auch kein Beruf, es kann sich jeder so nennen. So kommt es, daß, wer jemals ein paar Schlagworte in eine Fernsehkamera sprechen konnte, automatisch gleich zum Fachmann avanciert, von weiteren Sendern gebucht wird und so binnen kurzem eine Art Papststatus einnimmt, dessen “Autorität” nie mehr hinterfragt wird. Auch “Ernährungsexperten” sind nicht selten Diätköche oder einfach Autodidakten.



1 Was sind Freie Radikale?

Was denn nun sind Freie Radikale? Freie Radikale sind hoch aggressive physikalisch-chemische Reaktionen und in den Bereichen der Chemie und Physik seit langem bekannt. Wenn Lack verblaßt, Autoreifen brüchig werden, Betonbrücken einstürzen oder Flachdächer undicht werden, dann waren Freie Radikale am Werk. “Materialermüdung” ist zum Beispiel der Effekt von Freien Radikalen. Ihre Bedeutung in der Medizin wurde in Deutschland seit den siebziger Jahren besonders von dem Mediziner und Biochemiker Gerhard Ohlenschläger aus dem Gustav-Embden-Zentrum der biologischen Chemie an der Universitätsklinik Frankfurt/Main erkannt und erforscht. Freie Radikale sind Atome oder Moleküle, denen durch Energiebeträge unterschiedlichen Ursprungs zusammen mit dem Luftsauerstoff oder anderen Oxidantien gewaltsam Teile ihres “Selbst” gewissermaßen “abgesprengt” wurden. Ein Atom z. B. verliert auf diese Weise ein Elektron auf seiner äußeren Schale. Das bedeutet, daß dabei ein einzelnes – nunmehr radikalisches – Elektron und ein “ungleichgewichtiges” Atom entstehen, das seinen ursprünglichen Zustand ganz schnell wieder herstellen will. Dies ist aber nur möglich, indem dieses (neue) Rumpfatom seinerseits einem benachbarten Atom ein Elektron entreißt. Auf diese Weise setzt sich die Reaktion über alle weiteren Atome benachbarter Schalen fort. Man kann sich diese zeitversetzte lineare Reaktion in etwa so vorstellen wie bei der “Domino Night” im Fernsehen: Zigtausend aufgestellte Dominosteine werden zu einem bestimmten Zeitpunkt an der Peripherie angestoßen und bewirken so eine Kettenreaktion, die über Stunden weiterläuft, bis am Ende alle Steine umgefallen sind (und dann ein Muster darstellen). Man kann sich vorstellen, diese umfallenden Steine würden auf ihrem Weg nicht nur ihren Vorderstein umwerfen, sondern auch noch benachbarte Steine mitreißen. Diese würden ihrerseits Kettenreaktionen auslösen und unterhalten, usw.., usw.. Das ergäbe dann einen exponentiellen Reaktionsverlauf im Sinne von 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256, und so weiter. Elektronen können aufgrund radikalischer Effekte zwischen den Schalen eines Atoms oszillieren und damit seine Stabilität verletzen. Außerdem treten die Elektronen auf ihrem Platz von Natur aus immer paarig auf, sind also als Zweier-Paar vorhanden. Wenn paarige Elektronen sich immer beide um die gleiche Achse und in derselben Richtung drehen, also den gleichen Spin haben, können sie von Freien Radikalen aus dieser Eigenbewegung gerissen werden, sodaß sie dann dadurch auch radikalisch werden. Solange ein Elektron einzeln ist, also nicht gepaart, ist es mit seinem eigenen Spin alleine, d.h. es wird nicht durch den Spin eines anderen (zweiten) Elektrons reguliert. Da dieser Ein-Elektron-Spin paramagnetisch ist, lassen sich während der Lebensdauer dieses Freien Radikals elektromagnetische Resonanzen messen. (Nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert übrigens die Kernspintomographie/NMR). Radikalische Reaktionen können also aus der Verletzung der Paarigkeitsregel, aber auch aus einer Spinumkehr resultieren. Hierbei wird ein Elektron gezwungen, einen anderen Spin (Drehung) einzunehmen als es zuvor hatte.

Damit man sich eine Vorstellung von den Geschwindigkeiten solcher Vorgänge machen kann: Für den Sprung von einem Atom zum anderen benötigen Elektronen 300 Attosekunden – Attosenkunden sind Trillionstel Sekunden – , wie deutsche und spanische Physiker herausfanden, als sie kurze Röntgenimpulse auf Schwefelatome richteten, die zuvor auf eine Rutheniumoberfläche aufgebracht wurden. Bei jedem Blitz wurden Elektronen aus ihrem Grundzustand in einen hochangeregten Zustand befördert und dabei von Rutheniumatomen eingefangen. Die dabei gemessenen Absorptionsspektren in Verbindung mit der Kenntnis über die inneren Vorgänge in Schwefelatomen erlaubten genaue Angaben zu den gemessenen Geschwindigkeiten (“Nature”, Bd. 436, S. 373).

Radikalische Reaktionen sind der “Preis” für den Nutzen der Oxidation. Diese verhilft Lebewesen zur ökonomischen Energieausnutzung, sie ermöglicht Entgiftungsvorgänge und die Synthese von Funktionsproteinen und dient schließlich der Abwehr schädlicher Keime.

Radikalische Reaktionen laufen Tag und Nacht ununterbrochen in uns ab, mal mehr und mal weniger und nicht immer so schnell, wie gerade beschrieben, sondern auch mal langsamer. Trotzdem ist die Geschwindigkeit immer so hoch, daß wir radikalische Reaktionen nicht “bei der Arbeit” beobachten können, sondern nur anhand ihrer Hinterlassenschaften wie oxidierte Moleküle u. a. ihre Tätigkeit nachträglich feststellen und Aufschluß über ihre Aktivität und ihr destruktives Potential erhalten können. “Altersflecken” sind z. B. das Zeichen von oxidiertem Melanin der Haut. Diese Flecken kann man bei der Leichensektion alter Menschen auch im Darmsystem und den Hirnhäuten finden, mitunter in solcher Ausdehnung, daß die Flecken zu großen Lipofuszin-Bezirken konfluieren. Wie wir gesehen haben, können Freie Radikale, je nach Auslöser, extrem schnell, nämlich hochreaktiv, sein. Die “Wegstrecke” in und an der Zelle, die sie dabei zurücklegen, ist dann aber kurz. Sie reagieren im näheren Umfeld. Andere Radikale – oder ihre Vorstufen – reagieren wiederum wesentlich träger. Dafür legen sie in der Zelle einen längeren Weg zurück, reagieren also fern ihres Entstehungsortes.

Diese Vorgänge bedeuten, daß alle betroffenen Zell-und Gewebsstrukturen, also Eiweiße, Fette, Kohlenhydrate und Nukleinsäuren (DNA), geschädigt oder zerstört werden: An der Zellmembran werden Form und Anzahl der Rezeptoren, die für die Aufnahme von Stoffen in die Zelle verantwortlich sind, beeinträchtigt. Die lipophile (fetthaltige) Membran selbst wird oxidativ geschädigt, was man sich am besten vorstellen kann wie Butter, die an der sauerstoffhaltigen Luft ranzig wurde. Die in den Zellen für die Umsetzung des angebotenen Sauerstoffs zuständigen Mitochondrien – viele Tausend pro Zelle – werden in ihrer Anzahl und Struktur verändert. So kann man aus einem Zellpräparat schon anhand der Anzahl der darin vorgefundenen Mitochondrien auf das ungefähre Alter des Menschen schließen, von dem das Präparat stammt, denn untergegangene Mitochondrien werden nicht ersetzt, sie können sich nicht vermehren. So nimmt mit zunehmendem Lebensalter die Anzahl der Mitochondrien pro Körperzelle physiologischerweise ab.

Freie Radikale sind zwar einerseits an der Steuerung des überaus komplexen Vorgangs der Zellteilung regulierend beteiligt, andererseits sorgen Freie Radikale für Defekte an der Erbinformation. Immer wenn sich die spiralige Doppelhelix zur Teilung öffnet, wird sie vulnerabel, d. h. radikalische Schädigungen führen dann zu Ablesefehlern, Synthesen verlaufen unvollständig, fehlerhaft oder unterbleiben ganz. Aus sinnvollen “Sätzen” entsteht dann ein Nonsense-Text.

Beispiel: Wenn dies ein korrekter Satz ist, bestehend aus Wörtern mit jeweils drei Buchstaben, die die Basentrippletts (Guanin/Cytosin, Adenin/Thymin [in DNA], Adenin/Uracil [in RNA] repräsentieren und von dem jeder dasselbe versteht
MAN LAS DER ZAR SEI NUN TOT,
so wird beim folgenden Satz an seinem Ende durch Freie Radikale ein Ablesefehler entstehen (Das “O” ist weggefallen)
MAN LAS DER ZAR SEI NUN TT.
Dieser Fehler ist zwar nicht sehr schlimm, würde aber bedeuten, daß beispielsweise ein Molekül, vielleicht ein Enzym, entstanden ist, welches nicht sehr funktionsfreudig, d.h. nicht sehr arbeitsam ist.
MNL ASD ERZ ARS EIN UNT OT
Hier passiert der Fehler gleich zu Anfang des Satzes – das “A” ist weggefallen –, der durch das “Nachrutschen” der anderen “Buchstaben” jetzt kompletter Nonsense ist . Niemand kann ihn verstehen, niemand weiß, was gemeint ist. Beim Weitergeben dieser fehlerhaften Information entsteht sozusagen die (fehlerhafte) Kopie der (fehlerhaften) Kopie der (fehlerhaften) Kopie der (fehlerhaften) Kopie, usw. usw. Oder: Der Satz “Der-Hut-ist-rot” wird durch “Vertauschungen” plötzlich zu “rHu-tis-tro-t”. So kann auch eine Krebszelle entstehen oder ein nach dieser “Blaupause” synthetisiertes Molekül, das vollkommen nutzlos ist. Gleichzeitig fehlt unserem Stoffwechsel aber das entsprechende Funktionsmolekül. Es gibt auch “ungeordnete” Fehler, die Hörfehlern vergleich