13 Wie wir arbeiten

Wenn ein neuer Patient unsere Praxis aufsucht, wissen wir noch gar nichts von ihm. Vielleicht ist er verständig und kann uns seine Beschwerden treffend mitteilen, vielleicht hat er auch Befunde jüngeren Datums aus einer anderen Praxis dabei. Wir lassen ihn sich entkleiden und inspizieren seinen Körper, seine Bewegungen, seinen Gang, seine Feinmotorik, seine Haut, Haare und Nägel. Wir schauen in den Rachen, die Ohren, betrachten Zahnfleisch, Zunge und Schleimund Bindehäute. Wir überprüfen Nervenreflexe, Puls, Herz-und Lungengeräusche. Alles dieses notieren wir. Aber damit wissen wir noch nicht viel von unserem Patienten. Seit vielen Jahren nun haben wir es uns angewönt, unsere “Neuen” einfach zuhause aufzusuchen. Unter dem Vorwand “ich war sowieso in der Nähe bei einem Hausbesuch und da kann ich Ihnen auch gleich das Rezept vorbeibringen” oder ähnlichem, können wir uns ein besseres Bild von ihm machen: Wo und wie lebt er?, Lebt er allein? Wie ist die Familie? Hat er Hobbies? Gibt es einen Garten? Hält er Haustiere? Manchmal gelingt es auch, einen Blick in den Kühlschrank zu werfen, was immer aufschlußreich ist. Wir lassen unsere Patienten erzählen und bitten sie auch, ihre Familienfotoalben anschauen zu dürfen. Dort zeigen sie uns dann ihre blutsverwandten Vorfahren, berichten von deren Krankheiten und Todesursachen und wir sehen meist, daß unser Patient durchaus die Statur seiner Vorfahren geerbt hat. Und wir wissen sofort, daß wir mit Diät-und anderen Gesundheitsratschlägen vermutlich nicht viel ausrichten werden. Auf die Idee mit den Hausbesuchen sind wir gekommen, weil einer unserer damaligen Patienten mit unklaren Beschwerden – Inappetenz, Müdigkeit, Desinteresse, veränderte Leberwerte – recht verzweifelt zu uns kam, weil man ihm andernorts bisher nicht helfen konnte. Seine Beschwerden erschienen rätselhaft, arbeitete der Mann doch als Beamter auf dem städtischen Katasteramt und hatte als Single auch sonst ein streßfreies Leben. So gab ein Besuch in seinem Haus erste Hinweise: Seine reich bemessene Freizeit verbrachte der passionierte Bastler ausnahmslos in seinem fensterlosen Hobbykeller mit niedriger Decke. Dort klebte er mit viel Klebstoff aus abgebrannten Streichhölzern den Kölner Dom, das Ulmer Münster, den Mailänder Dom, eben die gesamte Gotik, zusammen. So war er nach den täglich dort verbrachten Stunden abends regelrecht “abgefüllt” mit polycyclischen aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAKs). Wir haben daraufhin mit ihm einen schriftlichen Vertrag geschlossen: Wir verpflichteten uns, ihn mit körpereigenen, also orthomolekularen Substanzen zu behandeln, er verpflichtete sich, in seinen Hobbyraum ein Fenster brechen zu lassen und eine elektrische Lüftungspumpe einzubauen. Nach sechs Wochen (G-SH, L-Cystein, B-Vitamine, Selen, u.a.) hatten sich Stimmung und Leberwerte soweit normalisiert, daß er jetzt, trifft man ihn zufällig auf der Straße, freudig herüberruft, daß es ihm bestens gehe, er seine Bastelkreationen jetzt übers Internet verkaufe und er erst wieder zu uns käme, wenn es ihm mal wieder dreckig ginge. Dafür kommen jetzt seine Kollegen aus dem Rathaus mit anderen Problemen.

Zentraler Punkt bei allen Patienten ist ihre Ernährung. Spätestens als Kranke erhalten sie Ratschläge, viele Faltblätter oder Kursangebote ihrer Krankenkasse zur “Ernährungsumstellung”. Abgesehen davon, daß hier regelmäßig alle aus Funk und Fernsehen bekannten Ratschläge unterschiedslos auf jeden einzelnen herunterregnen und abgesehen davon, daß die meisten Erkrankungen durchaus eine davon abweichende Kost erfordern oder auch erlauben, kümmert sich kein Mensch darum, ob unser Patient das auch umsetzen kann und mag. Alte Patienten können oft schlecht kauen, Vollkornprodukte oder Rohkost sind bei empfindlichem Verdauungsapparat kontraindiziert, das Zeitbudget ist aus Gründen der heute stark beanspruchenden Erwerbstätigkeit knapp und (frische) Lebensmittel sind heute für manchen nicht mehr erschwinglich, bzw. ohne Bus oder Auto nicht erreichbar. Außerdem hat jeder Mensch ein Recht auf seine Vorlieben und Abneigungen. Wir lassen uns deshalb von jedem Patienten eine Liste mit seinen Lieblingsgerichten (Frühstück, Mittag-und Abendessen, Getränken) erstellen, das ergeben dann ungefähr 30-40 Positionen. Dann lassen wir uns den Prozeß der Speisenzubereitung erklären. Es gelingt dann, daß Patienten Fette reduzieren oder durch andere ersetzen, Gemüse dünsten statt kochen und seltener Gebratenes servieren. An der Auswahl der Gerichte ändern wir, wenn’s irgend geht, jedoch nichts. Wir sind im Gegenteil darauf bedacht, unseren Patienten ihre Lieblingsgericht zu lassen. Wer jemals karottenraspelnde Männer in der Lehrküche einer Kurklinik beobachtet hat, ahnt, daß spätestens nach zwei Wochen zuhause alles wieder seinen gewohnten Gang geht. Essen bedeutet nicht nur Erhalt der Körperfunktionen, sondern ist gleichzeitig ein sinnlicher Akt, der Lebensfreude geben soll. Essensgewohnheiten haben sich über ein Leben entwickelt, sie entstammen der eigenen Kindheit mit allen (wohligen) Erinnerungen. Wir dürfen unseren Patienten diese Stütze nicht nehmen!

Natürlich: Wer so arbeitet wie wir, bekommt das von keiner Kasse, bzw. Versicherung bezahlt. Existenzsichernd ist das nicht. Wir tun das aber, weil wir als Teil in diesem Arzt-Patienten-Geflecht – aus egoistischen Gründen? – auch ein Gefühl der Befriedigung durch unsere Arbeit erleben möchten (und wir dankbar sind für unsere (Ehe-)Partner, die mit ihrem Einkommen unseren “Spleen” sponsern).